Die, die mich lehrten

Wir haben sie geliebt, gehasst und nach Kräften ignoriert. Aber was ist uns von ihnen geblieben? Marlene Göring traf die Lehrergeister ihrer Vergangenheit.


Illustration: Michi Schneider

»Hahaha!« – Ich will den Hörer auf Armlänge von mir strecken, so laut ist das Gelächter meiner ehemaligen Kindergärtnerin. »Mein Traumberuf? Das kann ich nicht behaupten«, wundert sie sich. Ich mich erst. Das liebe, süße Fräulein Zweig, in Wirklichkeit eine Kinderhasserin? Vergeblich versuche ich, das glockenhelle Lachen aus meinem Gedächtnis in der Stimme am Telefon zu erkennen. Das Vorhaben, die Ikonen meines Bildungsweges wieder zu treffen, könnte sich als ziemlich ernüchternd erweisen.

Fräulein Zweig heißt jetzt Frau Schilling und hat direkt nach der Wende aufgehört, im »Max und Moritz«-Kindergarten in Jena zu arbeiten. Vor unserem Gespräch dachte ich an goldene Zeiten zurück. Die Zeit der ersten Freunde und Feinde, der ersten Erinnerungen überhaupt. Und Fräulein Zweig alias Andrea Schilling spielte darin die Rolle des gutmütigen Engels. Statt diesem Engel habe ich jetzt eine gestandene Senior-Managerin am Telefon. Den Beruf des Erziehers hatte sie aus rein pragmatischen Gründen gewählt. Immer noch hört man ihr den Ärger darüber an, dass sie in der DDR das (später nachgeholte) Abitur nicht machen durfte. Sie hat sich dann für das Ausbildungsziel Kindergärtnerin entschieden, damals ein angesehener Bildungsberuf. Von all dem hatte ich natürlich keine Ahnung. Wir haben Fräulein Zweig einfach geliebt. Vor allen anderen Erzieherinnen hatten wir irgendwie Angst, die waren alt und streng. Fräulein Zweig sagte einmal, sie wolle nach uns keine andere Kindergruppe mehr übernehmen. Ich dachte, weil wir ihr so ans Herz gewachsen waren. »Eher weil ich mit der politischen Überwachung und dem Kindergeschrei nicht klarkam«, gesteht sie mir heute.

Auch das Treffen mit Frau Bestel wird ein Exkurs in die deutsch-deutsche Geschichte. Sie war von der ersten bis zur vierten Klasse meine Klassenlehrerin. Fast alle meine relevanten Erinnerungen an die Zeit um 1990 sind mit ihr verbunden. Als ich zum verabredeten Treffpunkt komme, ernte ich einen amüsiert strafenden Blick: Ich bin zu spät. Und von den Socken – statt der erwarteten gebrechlichen Großmutter steht vor mir dieselbe resolute Frau wie vor 17 Jahren. Das Café hat sie ausgewählt. Es riecht nach Wiener Kaffee, aus einer Vitrine lachen mir Hochzeitstortenfiguren aus Frack und Baiserkleid entgegen. »Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragt mich Frau Bestel fürsorglich.

Frau Bestel war die einzige, die uns erklärte, wieso die Lehrer in den Wendewochen bedrückt durch das Schulhaus wankten. Keiner wusste, wie es weitergeht. Irgendwann lief die Umstellung sehr schnell. Projekttage, neue Lehrpläne, Fortbildungen für die Lehrer. »Das war ja alles Neuland für uns!« Ich selbst hatte die neuen Lehrmethoden und den Umzug aus der Polytechnischen Oberschule in eine Grundschule nach BRD-Modell einfach hingenommen. Froh war ich über den schulfreien Samstag und das Abschaffen der Noten für Ordnung und Betragen.

Frau Bestel ist nach der Wende die gleiche für uns geblieben. Das Sammeln von Fleißbienchen und Altpapier war längst passé, da wollte sie neben Rechnen und Schreiben immer noch vor allem eins vermitteln: Moral. Keiner durfte gemein zu seinen Mitschülern sein. »Gerade Kinder aus sozial schwachen Familien waren mir ans Herz gewachsen«, sagt sie nachdenklich. »Ich wollte, dass aus denen was wird. Das Menschliche war mir immer besonders wichtig.« Unser Gespräch dreht sich dann auch hauptsächlich um Familie und Bekannte. Die Kinder auf dem Klassenfoto kennt sie alle noch mit Vor- und Nachnamen. Am Ende sind Frau Bestel und ich per Du.

In Vorbereitung auf meinen nächsten Lehrergeist besuche ich mein altes Gymnasium. Trotz ausgiebiger Sanierung schlägt mir das bekannte Geruchsgemisch aus Kantinenessen und Kinderfuß entgegen. Immer noch hängen unbeholfen ausgemalte Quadrate als kubistische Hommage an der Wand. Die Namen unter den Schülerbildern sind andere. Ein Ivo, eine Johnette und ganze zehn Charlottes zeugen von einer neuen Generation. Im abgelegenen dritten Stock könnte ich sicher heute noch heimlich eine auf dem Schulklo rauchen. Wie damals in der Fünf-Minuten-Pause, zwischen der siebten und achten Stunde. Ethik bei Frau Müller. Unser anstehendes Treffen bereitet mir Kopfzerbrechen. Sie hatte es nicht leicht mit mir.

Frau Müller und ich gehen in das szenige Café Stilbruch und erwischen den letzten freien Tisch. Wir reden über Journalismus, Bildungspolitik, die Zusammenlegung der Jenaer Gymnasien. »Das ARG war etwas Besonderes«, resümiert sie. Denn das Adolf-Reichwein-Gymnasium von einst, über dessen Eingang »Lehrt uns den Frieden« gesprüht stand, gibt es nicht mehr. Es ist jetzt eine kooperative Gesamtschule, das frühere Lehrerkollektiv ist zerbrochen. Gemeinsam beweinen wir den Verlust. Auch wenn ich das ARG erst nachträglich liebgewonnen habe – wegen seiner musisch-sprachlichen Ausrichtung und der vielen motivierten Lehrer. Damals hielt ich den Großteil der Menschen dort für spießig und einfach blöd. Jedes Mal, wenn ich darauf anspielen will, weicht Frau Müller aus. Auch von teenage angst und Rebellion will sie nichts wissen. Die halb gefürchtete, halb herbeigewünschte Konfrontation kommt nicht. Vergeblich versuche ich in ihrem Gesicht zu lesen. Sie bleibt ganz ruhig, ihre Hände jedoch spielen nervös mit der Speisekarte. »Wenn es gut geht, ist der Unterricht auf Augenhöhe«, sagt sie jetzt. »Da geben dann eben die den Ton an, die auch Lust haben.« Langsam wird mir klar: Vor mir sitzt eine engagierte Lehrerin, die sich ihren Schülern am liebsten fachlich nähert. Wer sich nicht begeistert, dem rennt sie auch nicht hinterher. Als Dozentin und Studentin wären wir sicher ausgezeichnet miteinander ausgekommen. Einmal noch werde ich stutzig. »Da sind Sie die Siegerin geblieben«, sagt Frau Müller, als ich ihr von den Querelen mit meiner damaligen Englischlehrerin erzähle – die hatte mir das Wort »alienated« nie als Übersetzung von »entfremdet« durchgehen lassen, ich habe es beharrlich weiterbenutzt. Sind die Kämpfe von damals doch nicht überwunden?

Auch Frau Hager hatte ich am ARG. Deutsch und Geschichte, von der neunten bis zur Oberstufe. Als die meisten Lehrer an meiner jugendlichen Sturköpfigkeit längst resignierten, hat sie mich immer wieder aus der Reserve gelockt. Einmal sollte ich die letzte Stunde zusammenfassen, obwohl ich geschwänzt hatte. Das Thema wusste ich, den Rest habe ich mir zusammengesponnen. »Marlene, das können Sie gar nicht wissen!«, platzte Frau Hager heraus, gleichzeitig verärgert und anerkennend. Von ihr habe ich ein Grundvertrauen in meine geistigen Fähigkeiten, das mir an der Uni oft geholfen hat.

Mit Frau Hager sitze ich ebenfalls im Café Stilbruch, wo auch sonst in Jena. Ob sie sich besonders freut mich zu sehen, kann ich schwer sagen. Frau Hager war immer ein herzlicher Mensch. Sie sieht frisch aus, kaum älter als vor zehn Jahren. »Paris, da war ich auch mit!«, ruft sie plötzlich beim Durchblättern meines Abihefts. Ich kann mir kaum vorstellen, dass meine einstige Deutschlehrerin im Moment an einer Grundschule unterrichtet. Von ihr habe ich zum ersten Mal von Motivgeschichte und Freudscher Psychoanalyse gehört. »Ich war noch nie an einer Grundschule.« Sie lacht: »Das war schon ein schöner Kulturschock.« Was denn wichtiger sei, frage ich: das Zwischenmenschliche oder die fachliche Bildung? »Das kann man nicht so wichten«, sagt sie und benutzt eine seltene adjektivische Verbkonstruktion, die vor Jahren von ihrem in meinen Wortschatz übergegangen ist. »Ich kann nicht nur als Stundenhalter da vorne stehen, ich muss auch eine Beziehung zu den Schülern aufbauen«, sagt Frau Hager und nippt an ihrer Schale Cappuccino. Für eine Weile verlieren wir uns in einer Diskussion über die soziale Verantwortung des Lehrers. Bei Konflikten solle man auch mal persönlich werden. »Damit die Schüler merken, die haut hier nicht nur heiße Luft raus.« An unsere leicht schizophrene Beziehung damals erinnert sie sich schon. »Dafür ist man Lehrer, dass man auch mit Teenagerallüren klarkommt.« Zum Glück habe ich nicht auf Lehramt studiert.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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  1. 16. Juni 2010

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