Heftbonus: „Jeder Tag, an dem man nicht urteilt, ist ein gewonnener Tag.“

Für die Recherche verbrachte er drei Monate in der brandenburgischen Provinz Zehdenick alias „Oberhavel“ – irgendwo zwischen Hartz IV-Avantgarde und dem Witz des Dahingelaberten. Moritz von Uslar über sein neues Buch „Deutschboden/ Eine teilnehmende Beobachtung“. Das Gespräch führte Catharina Tews.

„Kopfschmerzen hab ich heute. Vielleicht vom Fahrrad fahren ohne Mütze.“ Moritz von Uslars Wildwest-Begegnungen in der Provinz. Foto: Cora-Mae Gregorschewski.

Herr von Uslar, es ist 11.41 Uhr. Wäre es in Oberhavel jetzt schon Zeit für ein Hackepeterbrötchen?

Absolut. Ich saß immer um neun Uhr in der Gaststätte Schröder und dann kamen ein Pott Kaffee, zwei „Hacke“, ein Marmeladenbrötchen und das Schönste auf der Welt: ein Eibrötchen.

Sie hatten Lust auf ein Abenteuer und suchten sich einen Ort, an dem faktisch nichts passiert. Wie passt das zusammen?

Mir ging es tatsächlich um eine andere Lebenswirklichkeit. Ich wollte andere Gespräche hören, einen anderen Beat, einen anderen Humor kriegen, als diesen super ironischen, abgehängten Berliner Hipsterquark. Eins härter, eins direkter, eins prolliger. Der angebliche Proll ist natürlich auch keiner. Das musst du schreiben! (Lacht.) Der Proll ist mit seiner eigenen Selbstinszenierung so sehr beschäftigt, dass es ihn praktisch nicht mehr gibt.

Wie haben Sie das hinbekommen, keine Stereotypenreportage zu schreiben?

Ich wollte einfach kein scheiß Plattenbau-Tourist sein – der tausendste, der da mit der berühmten Reporter-Neugier und ganz viel tollem Verständnis gucken kommt, was die tätowierten Asi-Kids so treiben. Besser: sich einfach an die Theke mit hinstellen, mitsaufen, die Klappe halten, sehen, was passiert. Ich habe mich saufend zur Verfügung gestellt – so umschreibe ich meinen Recherchetechnik. In der Wiederholung an sich liegt schon Unwahrheit. Jeder Tag, an dem man nicht urteilt, ist ein gewonnener Tag. Die Menschen in Oberhavel haben sich als äußerst kommunikativ und verbindlich herausgestellt. Meine Beziehung zu den Leuten geht bis heute weit über das Buch hinaus.

Den Großteil Ihrer teilnehmenden Beobachtung verbrachten Sie mit den Mitgliedern der Band „5 Teeth Less“: Raoul, Eric, Rampa und Crooner. Was macht deren Freundschaft aus?

Die heißen in echt Paul, Carl, Drüse und Spooner. I love the names! Der Ort und die Band hält diese Jungs zusammen. Wichtig ist die Band natürlich auch deshalb, weil die Arbeit wenig taugt und auch sonst Wenig taugt. Alle die Jungs, die ich beschreibe, sind in der Kneipe Schröder zu Oberhavel großgeworden – ein fast mystischer Ort: Hier spielen sich am Freitagabend wahre Western-Szenen ab.

Paul, der selbst Hartz IV bezieht, definiert den typischen Hartz IV-Empfänger als „dreckigen Hund, dicke Alte dazu, zwei Kinder und immer versoffen.“ Reden sich alle ein, sie wären anders?

Der Hartz-IV-Empfänger an sich nimmt sich immer als den untypischen Hartz-IV-Empfänger wahr. Der sagt: „Das ist nur ein Übergang bei mir, ich hab mit den Asis nichts zu tun“. Und logischerweise gibt es auch unter Hartz-IV-Empfängern verschiedene Stufen der Selbstwahrnehmung, aber auch des sozialen Absturzes. Das gehört zur Selbstbehauptung und zum Selbstschutz. Die Jungs aus der Band wirkten extrem unverzweifelt und untrostlos auf mich. Paul arbeitet jetzt sogar wieder.

Gaststätte Schröder: Goldkrone, Pils und Herrengedeck. Für das Buch haben Sie ganz schön gebechert, oder?

So nebenbei wurde tatsächlich die ganze Zeit viel getrunken. Ich blieb bei Wasser und Bier. Das war der Schmierstoff um in Bewegung zu geraten. Vieles ist wirklich langweilig dort. „Was? Es ist nicht eine Sekunde langweilig bei uns“, würden die Jungs widersprechen. Es werden Stadtrunden im Auto gedreht. Es wird Pils getrunken. Es wird gut abgestumpft. Aber geil abgestumpft. Ich bin ein großer Fan davon.

„Ein guter Gag, das war sicher, würde am Ende die Welt retten.“ Ist Ironie der einzige Ausweg aus der Trostlosigkeit?

Wer es schafft, einen Witz zu machen, der stellt sich neben seine Situation, gewinnt Abstand und beginnt mit der Verarbeitung. Er gerät in Bewegung und ist unstumpf. Deswegen ist man total froh, wenn Witze kommen. Es ist schon beeindruckend, wie Leute es schaffen, sechs, sieben, acht Stunden an einem normalen Dienstagabend mit gutem Plappern zu füllen.

Es gibt so großartige Sätze in Ihrem Buch wie: „Alkoholiker: Kopfschmerzen habe ich heute. Weiß gar nicht von was. Vielleicht vom Fahrrad fahren ohne Mütze.“

Genauso gefallen! Riesig! (Lacht.) Sowas hab ich gerne. Kann ich nicht genug hören. Das ist ja auch der Sinn, dass man einfach diesen Bla abschreibt.

Es heißt, in Oberhavel leben nur drei Schwarze. Der Ethos der Jugend bleibt der Rechtsradikalismus – wie passt das zusammen?

Ich habe dort alles andere als einen Naziort gefunden. Aber die Leute, mit denen ich rumhing, sagten von sich selbst, sie seien früher Nazis gewesen. Dabei war das echt schwierig, meinten sie. Man wollte immer Ausländer hassen, es waren aber irgendwie gar keine da. Das sagten sie mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln. Warum sie aufgehört haben? „Na ehrlich gesagt, wollten wir endlich mal wieder einen Döner essen.“ Find ich so gut! (Lacht.) Das sagt mehr über die Nazizeit aus als viele lange Aufsätze. Ohne etwas verharmlosen zu wollen, erklärt es, was Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern damals auch sein konnte: ein Style, eine Jugendkultur, einfach die letzte Möglichkeit, seinen Eltern auf die Nerven zu gehen. Sie haben es selbst so beschrieben: „Es ging darum, dass man die Straße runtergelaufen ist und die Leute den Bürgersteig gewechselt haben.“ Und wenn wir das so sagen, dann sind wir da, wo jede Jugendkultur seit Rockabilly, seit den Teds hin will: Leute erschrecken. Ein Alptraum sein.

Das Männerbild der Kleinstadt liegt irgendwo zwischen Muskeln, Tattoos und Solarium. Warum?

Das Metrosexuell-Sein ist in der Kleinstadt viel ausgeprägter, weil sie dort so viel Zeit haben. Das Spoilen der eigenen Frisur, des eigenen Körpers und das Rasieren der Augenbrauen ist sozusagen eine Fortsetzung des Autotunens. Klassisch als trotzige Geste an die Gesellschaft: „Schau her, wir sind ready to go! Wir sehen super aus!“

Was hat Sie die Kleinstadt denn gelehrt? Das Abräumen von Spielautomaten vielleicht?

Nichts Praktisches, so viel ist sicher. Aber Spielautomaten fand ich als Kind schon toll. Man steckt Geld rein: Kirschen, Sonnen, Glöckchen drehen sich, 38 Milliarden, Ratatatatatang, „Risiko“. Null Ahnung, wie das funktioniert. Es kann aber nicht schwer sein, weil es von Typen gespielt wird, die kaum noch stehen können. Angeblich kann man ja durch Neugier so viel sehen und verstehen. Ich glaube an das Nicht-Verstehen. Ans Respektieren der anderen Welt. Das beste Beispiel ist der Spielautomat. Ich will ihn gar nicht verstehen. Ich will davor stehen und ihn bewundern.

Welche Rolle spielt die Heimat in der Provinz?

Es gibt eine ganz starke Verbundenheit zu der Kleinstadt und der Region. Die Einwohner werden da auch im Zweifelsfall nicht weggehen. Kennen jeden Baum, jedes Haus, jeden Typen, haben zu allem ne Geschichte. Ich als Reporter habe keine Heimat. Für mich ist Heimat so ein abstrakter Begriff wie Freiheit. Ich bin in Köln geboren, bin dann in Berlin aufgewachsen, dann ins Internat im Schwarzwald, später Hamburg, München und seit zehn Jahren bin ich wieder in Berlin. Einen Ankerpunkt im wörtlichen Sinne habe ich nicht. Um es kitschig zu sagen: Ich bin heimisch im Film, in der Literatur, in der Popkultur, im Lebensstil. Ich brauche keine Heimat, weil ich sie so nicht kenne. Gleichzeitig wirkt sie natürlich wahnsinnig attraktiv auf mich. Ein Zuhause zu haben, wie die Jungs es mir vorgelebt haben, finde ich unheimlich schön. So eine Ruhe liegt darin. Königlich.

Im Laufe des Buches lassen Sie sich eine Tätowierung stechen. Wahnsinn!

„I’m left, you’re right. She is gone.“ , ein Elvis-Song, die ist in Oberhavel reingestochen worden. Das war ein bewusstes Übertreten der Fiktionsgrenze in etwas Echtes. Eine für mich für immer nachvollziehbare Markierung, dass die Geschichte wirklich stattgefunden hat. Der Tätowierer Schraube heißt in echt Öse und hat solche Klassiker gesagt wie: „Du musst mit leben, nisch ich.“ (Lacht.)

Rumgammeln an der Tanke und angeheiterte Autorennen – irgendwie hört sich das aus Ihrem Mund alles ganz romantisch und dufte an?

Das kommt daher, weil ich es auch wirklich als dufte und romantisch erlebt habe. Ich bin ja Fan von diesem Leben da. Es hat Würde und Humor. Ich schaue voller Respekt darauf und ich kann wirklich irre gut nachvollziehen, warum die so leben. Man kann sich nicht aussuchen, wie man lebt. Es ist deswegen auch so ein wahnsinniger Luxus gewesen, dieses andere Leben mal drei Monate ausprobieren zu können. Mich berührt dieses Leben in Oberhavel, in der Kleinstadt, mehr als ein luxuriöses Leben. Ich überlege, ob man da nicht irgendwann mal ein Ferienhaus baut.

In einem Absatz fragen Sie sich, ob die Randexistenzen der Gesellschaft in Wahrheit keine Problemfälle, sondern eine Art der Avantgarde sind. Wie jetzt?

Der Begriff „Avantgarde“ ist keine qualitative Aussage. Er meint, dass gewisse Leute gedanklich oder im Lebensstil einer großen Entwicklung vorausgehen. Wenn man sieht, wie sich in Brandenburg Orte entvölkern und wie Leute eine Lebenspraxis entwickeln, um damit zurecht zu kommen, dann würde ich das als Avantgarde bezeichnen. Sie haben keine Arbeit hängen in Jungsgangs miteinander rum und dabei halten sie trotzdem ihre Würde und familiäre Strukturen hoch. Ich finde diese Art des Lebens total untrostlos und in Ordnung. Ich kann hier sagen, macht mal weiter so, Männer!

War das Ende der Reportage der Punkt, an dem der Reporter Teil der Geschichte wurde?

Als jemand, der wirklich Beziehungen zu den Protagonisten eingeht, wird man irgendwann blind für das, was eigentlich passiert. „You should better just shut up, finish your story.“ Aufhören. Schluss machen für heute. Später dann habe ich diese unendlichen Notizen genommen und dramatisiert.

Lässt sich in Ihrem Buch ein tieferer Sinn entdecken?

Hoffentlich nicht. Also ich kenne ihn nicht. Ich darf ihn nicht kennen. So wie es Rainald Goetz sinngemäß immer gesagt hat: „Aller Sinn ist Erkennen, ist Festhalten der Gegenwart.“ Die Aufgabe der Literatur liegt im genauen Abschreiben der Welt, der Gegenwart, der Wirklichkeit: Hierin sehe ich meine Aufgabe. Was im Alltag dieses Landes passiert, das ist das Dramatischste, Irrste, Überraschendste und gleichzeitig Poetischste, was ich als deutscher Autor beschreiben kann. Das im O-Ton festzuhalten und literarisch zu verdichten, was in gutgehenden Lokalen in Zehdenick um halb zwölf mittags beim fünften Pilsbier besprochen wird – gut, das ist der Traum. Schöner wird es nicht.

Zur Person

Moritz von Uslar, 40, ist der Erfinder der legendären „100 Fragen an…“-Interviews der Süddeutschen Zeitung. Er war Redakteur beim SPIEGEL und schreibt heute für die ZEIT die Beiträge „99 Fragen“ und „Freitagnacht“. Nach Theaterstücken und einem Roman ist „Deutschboden“ sein aktuelles Buch.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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