Der alte Mann und der Zufall

Ein geplantes Leben lebt nicht. Matthias Bolsinger besuchte Stanislaw Kubicki, FU-Gründungsmitglied, Matrikelnummer 1 und Vertreter einer Lebensphilosophie, die in Vergessenheit gerät.

Die FU-Matrikelnummer 1, Stanislaw Kubicki, in seinem Wohnzimmer in der Hufeneisensiedlung in Berlin-Neukölln. Foto: Cora-Mae Gregorschweski

Zwei, vielleicht drei Sekunden lang ist nur der rasselnde Atem von Hündin Kira zu hören, die unter dem Wohnzimmertisch zwischen Halbschlaf und Schlaf wandelt. Die sonore Stimme Stanislaw Kubickis wird von den unter der Bücherlast ächzenden Regalen gedämpft.

Er wählt seine Worte mit Bedacht, auch wenn er das meiste davon schon unzählige Male erzählen musste: seine Kriegsgefangenschaft, die Gründung der Freien Universität, ein Münzwurf, seine Matrikelnummer, seine Professur. Auf den ersten Blick erscheint die Lebensgeschichte des 87-Jährigen linear. Auf den zweiten aber ändert sich dieser Eindruck; auch er durchlebte Momente, in denen alles hätte anders kommen können.

1945: Der junge Kubicki stapft durch den Wald. Das Scharmützel an der Oder: verloren. Kubicki will nicht auf die andere Seite des zugefrorenen Flusses gehen, dort wartet die Wehrmacht. Er will aber auch nicht diesseits des Wassers bleiben, hier wartet die Rote Armee. Also entscheidet er sich einfach nicht. Er setzt einen Fuß vor den anderen, bis nach zwei Stunden das Schicksal für ihn entscheidet. Kugeln schlagen zu seinen Füßen ein. Die Russen nehmen ihn gefangen.

„Natürlich dachte ich nach, was die Zukunft bringen wird. Ich hatte immer Pläne“, erzählt Kubicki. „Für mich stand fest: Ich will Medizin studieren.“ Doch die Unwägbarkeiten des Krieges ließen es für junge Leute nicht zu, ihr Leben zu entwerfen: „Konnte ja ’ne Kugel kommen – bumms, war man weg“. Damals – Kubicki war keine 20 Jahre alt – träumte er von einem kleinen Grundstück mit einer Laube, für sich und seine Mutter. Sein Vater, bekennender Anarchist, war von der Gestapo in Polen ermordet worden.

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Heute ist der Krieg woanders. Die nachfolgenden Generationen können ihr Leben nach ihrem Willen gestalten. Wohl nie zuvor erlebte die Menschheit so intensiv, wie in jedem Augenblick die Zukunft wartet. Die Gegenwart schrumpft zusammen. Die Zukunft wird kalkuliert, das Vergangene kommt aufs Papier: in den Lebenslauf. Früher verwies dieser Begriff auf die Geschichte eines gelebten Lebens. Heute auf das, was die Gesellschaft an einem Menschen für wertvoll hält: Preise, Praktika, besondere Fähigkeiten.

Der CV-Fetischismus ist allgegenwärtig. Er steht sinn- bildlich für ein kapitalistisches Phantasma: Alles muss formbar sein – der eigene Körper genauso wie das eigene Leben. Die Freiheit, die diese Ideologie suggeriert, erfahren viele Menschen nicht nur als Last, sondern auch als Verantwortung für ein erfolgreiches Leben, das sie – wem auch immer – schuldig sind. Sie ist auch ein Trugbild. Mit ihr kommt ein unsichtbarer Beipackzettel, der diktiert, wie man diese Freiheit gefälligst zu verwenden habe. Die Grenzen, innerhalb derer ein Leben als gelungen gilt, sind längst gezogen. Sei frei! Aber sei glatt, sei geradeaus! Plane dein freies Leben! Der Zufall ist in der Moderne nicht willkommen.

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Porträtfoto aus dem Studienbuch Stanislaw Kubickis Foto: FU Berlin, UA, Vorlass Stanislaw Kubicki

1944 hatte Kubicki noch erlebt, wie die Hörsäle der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin mit Männern in SA-Uniformen gespickt waren und Anatomieprofessor Anton Johannes Waldeyer, ebenfalls in Braun, die Studierenden mit dem Hitlergruß willkommen hieß. Jetzt musste Kubicki als Medizinstudent mit ansehen, wie an der Linden-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, unter dem Einfluss der SED rote Fahnen gehisst wurden und alle Studierenden Vorlesungen in Marxismus-Leninismus belegen mussten. Wieder war die Wissenschaft nicht frei.

Als Studierende aus politischen Gründen exmatrikuliert wurden, kam es zu Protesten. Mit der Unterstützung der Alliierten und einiger Politiker gründeten Kubicki und seine Freunde eine neue, freie Universität. Anfangs mussten die Gründungs-Studierenden der Freien Universität Berlin kräftig mit anpacken. Sie schleppten die Stühle von Raum zu Raum, sogar in einem Kino wurde eine Zeit lang gelehrt. Kubicki war für die Immatrikulation seiner neuen Kommilitonen zuständig. Als ihm im Herbst 1948 der Auftrag erteilt wurde, alle Medizinstudierenden von A bis K einzuschreiben, wollte sich Kubicki natürlich selbst die Matrikelnummer 1 geben. Doch auch sein Freund Helmut Coper hatte es auf die begehrte Nummer abgesehen. Coper und Kubicki warfen eine Münze. Es gewann Kubicki. Ein einschneidender Moment im Leben des Medizinstudenten: Ein Münzwurf machte ihn zur Galionsfigur der Freien Universität. Es war Zufall.

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Der große Plan widerspricht dem Leben. Er ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. „Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sieht vieles so aus, als hätte es logischerweise passieren müssen“, sagt Kubicki. „Dabei war das meiste Zufall und Glück.“ Er schwamm im Strom der Zeit mit. Wenn sich eine Gelegenheit bot, griff er zu. So wurde Kubicki schließlich Professor für Neurologie – an der Universität, die er selbst mitgegründet hatte.

Auch Kubickis Liebesglück kam aus dem Nichts. Er war bereits im Ruhestand, als er Petra wiedertraf. Sie war ihm im Juni 1960 an der Uniklinik begegnet. Die adrette Dame im Petticoat, die eine Ausbildung absolvierte, war ihm damals sofort aufgefallen. Die beiden lernten sich kennen, verloren sich aber wieder aus den Augen. Im Jahr 2007 wollte Kubicki eigentlich nur ein Gemälde seiner Mutter fotografieren lassen. Zufälligerweise befand es sich in ihrem Besitz. Ihre Lebenslinien kreuzten sich erneut. Petra und Stanislaw heirateten.

Betrachtet man das Leben der Matrikelnummer 1 der FU – ein Leben komponiert vom Zufall – erscheint die Lebensverwaltung vieler junger Leute heute wie ein schlechter Witz. Dabei bedeutet das Sich-Einlassen auf den Zufall keineswegs Passivität. Wenn Kubickis Beispiel eines zeigt, dann, dass es selbst eine radikal aktive Wahl ist, für das Unwägbare offen zu bleiben.

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Kira schnaubt auf und döst weiter. Stanislaw Kubicki plaudert über seine Kindheit in der Britzer Hufeisensiedlung, in der er noch immer wohnt. Lebensgeschichten im Brennglas, alle im Wirbel der Unwägbarkeiten. Ein Freund Kubickis spielte öfter mit den Kindern von Adolf Eichmann, der um die Ecke wohnte. Wenige Häuser weiter dichtete der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam: „Das Leben und die Liebe ehren / das möchten wir Euch eben lehren.“ Eine Gesellschaft aus Menschen, die ihr Leben minutiös am Reißbrett entwerfen, um es später in Tabellen einzutragen, hat das verlernt. Dem Zufall aber das Handwerk zu legen, das vermag sie nicht.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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1 Response

  1. Genussleser sagt:

    Freigeistig, beeindruckend und erbebend. Raum trotz Dichte. Wenn Glückwunsch und Beileid einander nah und ehrfürchtig entgegen blicken. Vielen Dank!

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