Bereitmachen zum Entern

Was in der Kunst bereits anerkannt ist, kommt in der Literatur einem Skandal gleich: die Aneignung von fremdem Material. Buchpiraten aber schreiben ihre Werke ausschließlich mit den Worten anderer Autoren. Von Friederike Oertel

In der Kunst ist fast alles erlaubt. Ob Kopie, Variation oder Collage – selbst die Aneignung von fremdem Material ist unter dem Namen „Appropriation Art“ längst erprobtes Ausdrucksmittel bildender Künstler. Doch wie sieht es mit Autoren aus, die sich an den Werken Anderer bedienen oder sie sogar Wort für Wort und nahezu unverändert übernehmen? In der Literatur kaum vorstellbar – hier spricht man noch von keuscher Inspiration und Originalität. Als kreativ gilt nur, was neu und individuell ist.

Diese fundamentalen Kategorien der Literatur stellt die literarische Praxis der Buchpiraterie in Frage: Statt neue Texte zu schreiben, durchpflügen die sogenannten Buchpiraten das Meer der Literatur, entern fremde Bücher und nehmen geistiges Eigentum in Besitz, um es neu zu verarbeiten. Werke der Weltliteratur werden abgeschrieben, gekürzt, neu geordnet, variiert oder schlichtweg kopiert und unter eigenem Namen veröffentlicht – nicht als Plagiat, sondern als eigenständige Ausdrucksform.

Formen der Aneignung

Mit diesen Verfahren der literarischen Aneignung beschäftigt sich Annette Gilbert, Literaturwissenschaftlerin am Peter-Szondi-Institut der FU. Ihr zufolge bedienen sich immer mehr Autoren der Methode und schöpfen aus dem Fundus der Tradition: „Inzwischen hat die Zahl der Pirateneditionen die kritische Masse überschritten“, sagt Gilbert nicht ohne Augenzwinkern. In ihrer kürzlich erschienen Anthologie „Reprint. Appropriation (&) Literatur“ hat die Literaturwissenschaftlerin Werke internationaler Buchpiraten zusammengetragen und mit ihr das erste Überblickswerk weltweit vorgelegt.

Die Anthologie stellt unterschiedlichste Formen der Aneignung vor. Die Strategien der Buchpiraterie reichen von wortwörtlichen Kopien über die willkürliche Ausradierung von Textteilen bis hin zur Reduktion des Ausgangstextes auf einzelne Wörter. Mal ist das sogenannte „Original Pirate Material“ vom Original kaum zu unterscheiden, mal bleiben nur Kommata und Punkte auf dem sonst leeren Blatt übrig, mal nimmt der Text durch eine alphabetische Ordnung das Aussehen eines Lexikoneintrages an. Die Grenzen von Literatur und bildender Kunst zerfließen dabei oft.

Ob auf Mikro- oder Makrolevel, die Aneignung ist stets radikal und tritt offen zu Tage. Buchpiraten sind deshalb keine Plagiatoren oder Fälscher, betont Gilbert. Die offensichtliche Einverleibung des Materials entspräche vielmehr in der Regel einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Werk und einer Hommage an den Autor. Es ist die Wiederaufnahme eines Fadens – vergleichbar mit der Inszenierung eines Theaterstückes oder dem Singen vom Blatt.

Literatur fürs Museum?

Die Texte der Buchpiraten irritieren und bringen gängige Vorstellungen von Literatur und Poesie ins Wanken. Auf gekaperten Büchern werden unbekannte Gewässer angesteuert. Trotzdem stellt sich bei vielen Texten die Frage: Können und sollen diese Bücher gelesen werden? Oder geht es einzig um die Provokation, das Konzept und die Idee dahinter? Annette Gilbert vertritt einen klaren Standpunkt: „Natürlich lautet die Devise: Lesen. Deshalb ist mein Buch in einem Literaturverlag erschienen und nicht im Kunstbuchverlag.“

Dass sich die Lektüre lohnt, will die Literaturwissenschaftlerin mit der Organisation von öffentlichen Lesungen unter Beweis stellen. Insbesondere das performative Lesen der Texte zeigt, dass der Verzicht auf individuelle Wortwahl nicht bedeuten muss, dass ein Text kalt, rein intellektuell oder unpoetisch ist. Buchpiraterie geht über die bloße Provokation hinaus und belegt, dass etwas nicht neu oder original sein muss, um etablierte Sichtweisen zu irritieren und zur Entdeckung von Neuland aufzurufen.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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