Pop vom Ende der Postmoderne

Wie keinem*er deutschsprachigen Künstler*in seit Rio Reiser gelingt Tocotronic auf ihrem zwölften Studioalbum der Spagat zwischen Pop und Anspruch. Dennis Kölling hat genauer hingehört.

Tocotronic – Lehrmeister des Pop. Bildmontage / Foto: Sabine Reitmeier, Illustration: Joshua Leibig

„Ich will mich verändern, doch wie fang ich’s an?“ Zu ihrem fünfundzwanzigsten Bandjubiläum lassen Tocotronic ihre Vergangenheit als Großmeister des Diskursrocks hinter sich. Schwebte auf vergangenen Alben noch der Geist von Michel Foucault in Zitatform durch ihr Werk, steht das erkennende Subjekt im Vordergrund der charmant poppigen Autobiographie „Die Unendlichkeit“.

Der Sänger als erkennendes Subjekt

Getragen wird „Die Unendlichkeit“ von der persönlichen Biographie des Tocotronic-Sängers Dirk von Lowtzow. Als lyrisches Ich im Konflikt mit einem neutralen Subjekt in der zweiten Person beschreibt er seinen Weg aus der Endlichkeit. Vom Wunsch nach Sinnfindung getrieben streift er durch das Kleinstadtpanorama seiner Jugend, stilisiert die „Electric Guitar“ zum Safe Space im erbarmungslosen Dschungel deutschen Spießertums, und kämpft mit der Frage nach seiner Pein: „Bin ich was, das du nicht kennst, dass du mich Schwuchtel nennst?“

Coming of Age im ICE

Den Höhepunkt des Albums markiert das Triptychon der Lieder „Unwiederbringlich“, „Bis uns das Licht vertreibt“ und „Ausgerechnet du hast mich gerettet“. Lowtzows fragile Stimme artikuliert hier in klarer Prosa die großen Fragen des Erwachsenwerdens. Eingeleitet mit einer Fahrt im ICE durch „Felder voller Schnee“ konfrontiert die Band Ihre Hörer*innen mit dem Tod, der Leidenschaft und der Erlösung. Untermalt wird diese Reise von magisch präsenten Orchesterklängen, arrangiert vom österreichischen Produzenten Paul Gallister, der bereits durch seine Arbeit mit der Band Wanda ein Händchen für die perfekte Dosis Kitsch im richtigen Moment bewiesen hat.

All We Ever Wanted Was Everything

Musikalisch ist die Band mit ihrem zwölften Studioalbum auf dem vorläufigen Höhepunkt ihrer vierten Iteration angekommen. Anschließend an ihre Reisen durch Grunge, Post-Rock und Indie-Rock, perfektioniert die Band auf „Die Unendlichkeit“ die Hinwendung zu einer revitalisierten Popmusik, die mit dem Vorgängeralbum, dem „Roten Album“, begann. Der Austritt aus der Endlichkeit schmeckt im Tocotronic-Universum nach rosa Zuckerwatte und klingt dabei wie ein Proseminar zur Popmusikgeschichte: Hier treffen Krautrock Gitarren auf treibende Country-Rhythmen, sowie Punk und Hardcore-Anleihen auf verträumten Weichspül-Pop, der an keiner Stelle wirklich weichgespült klingt.

Das Finale des Albums verneigt sich schließlich ganz unverkrampft vor zwei Größen der Popkultur. Klingt die chansoneske Darbietung von „Alles was ich immer wollte, war alles“ beim ersten Hören noch deutlich nach Element of Crime, so spielt der Titel doch offensichtlich auf den Song „All We Ever Wanted Was Everything“ der Band Bauhaus an.

„Die Unendlichkeit“ ist Popmusik vom Ende der Postmoderne, in der die Zärtlichkeit über den Diskurs siegt. Musik, die uns unsere Schönheit vor Augen hält, uns aber tief im Inneren spaltet. Es ist als hätten Tocotronic ihre eigene Prophezeiung erfüllt und die liegende Acht geschlossen.

„Die Unendlichkeit” von Tocotronic erschien am 26. Januar 2018 auf Vertigo als Limited Box Set, Doppel-Vinyl, CD und Digitaler Download.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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