Schmökerzeit Teil VI — Zwei Frauen, zwei Geschichten, eine Hölle

Sofi Oksanen erzählt in ihrem preisgekrönten Roman „Fegefeuer“ das Leben zweier Frauen in Osteuropa. Alice Schwarzer ist hellauf begeistert. Matthias Bolsinger erklärt, warum.

1992, West-Estland: Aliide Truu ist zäh. Ihr Leben hat Haut und Seele gegerbt. Es ist bezeichnend für die alte Estin, dass es sie nicht aus der Bahn wirft, als sie eines Tages ein kleines Häuflein Elend vor ihrem Haus auf dem Land findet. Es ist ein junges Mädchen mit rissigen Nägeln, Laufmaschen in der Strumpfhose, erschöpft, verschmutzt, verprügelt: Zara. In diesem Moment kreuzen sich zwei im Geiste verschwisterte Lebenslinien.

Die Autorin von „Fegefeuer“, Sofi Oksanen, jongliert mit den Zeitpunkten der Handlung, die erst zum Ende hin ein homogenes Gefüge ergeben. Im Wechsel erzählt sie von Aliide Truu und ihrer großen Liebe, dann von Zara, deren Traum vom Westen zum Albtraum wird.

Hans war der für Aliide bestimmte Mann, der sich aber Hals über Kopf in ihre Schwester Ingel verliebt und Aliides Liebe nie erahnt, die ihr ganzes Dasein seinem Leben widmet. Weil Hans zu Zeiten des Stalinismus mit der Gegenrevolution sympathisiert, muss sein Schutzengel Aliide durch die Hölle gehen, der sie ihr ganzes Leben nicht mehr entfliehen wird.

Das junge Mädchen Zara träumt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vom guten Leben, von schicken Strumpfhosen, vom Westen. In Berlin gerät sie in die Fänge osteuropäischer Zuhälter und fristet ein Leben zwischen Prügeln, sexueller Erniedrigung, Betäubungsmitteln und Resignation. Auf einer Reise nach Estland gelingt ihr die Flucht vor ihren Peinigern und sie schleppt sich zum einzigen Ort des Landes, der ihr Geborgenheit verspricht: zum Haus von Aliide Truu.

„Fegefeuer“ bedeutete für Oksanen den literarischen Durchbruch. Die Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters wurde für das Buch mit Preisen überschüttet, darunter der Nordische Literaturpreis. Der Roman wurde in 32 Sprachen übersetzt. Auch in der deutschen Übersetzung beeindruckt das Buch durch seine gewaltige, poetische und doch präzise Sprache. In kurzen Kapiteln wechseln sich knappe Dialoge mit intensiven, aber nie überbordenden Beschreibungen ab.

Das ist aber nur einer der Aspekte, die „Fegefeuer“ zu einem gefeierten Werk machen. Die Substanz des Buches besteht nämlich nicht darin, eine spannende Handlung zu bieten. Wirklich spannend wird das Buch schließlich erst, als es gegen Ende Fahrt aufnimmt. Das Großartige an dem Romans ist, dass er auf deutliche, aber nicht explizite Art eine gemeinsame Erfahrungswelt von Frauen eröffnet, die verschiedene Geschichten erleben und doch ein gemeinsames Schicksal teilen: Frau zu sein. Denn in einer patriarchalen Gesellschaft erfährt jede Frau das gesellschaftliche Leiden als spezifisches. Stalinismus oder Kapitalismus sind für Männer stets um eine Dimension, den Diskriminierungsmechanismus, ärmer als für Frauen. Denn auch die „klassenlose Gesellschaft“ vergewaltigt – Kommunismus absurd. Und so übt „Fegefeuer“ den eigenartig zwanglosen Zwang aus, über das fiktive, über die Vergangenheit hinaus auch an das Jetzt der Frauen Osteuropas zu denken: Zaras Schwestern im Geiste.

Kein Wunder also, dass Alice Schwarzer in „Fegefeuer“ ein „literarisches Meisterwerk“ sieht, „das sich wie ein Krimi liest“. Und auch wenn Frau Schwarzers Euphorie ihr Urteil färbt: Das Buch hinterlässt ohne Frage einen tiefen Eindruck beim Leser – auch oder vor allem beim männlichen.

Fegefeuer
Autorin: Sofi Oksanen
Ver­lag: btb
Preis: 9,99 Euro

Alle weiteren Teile der Literaturserie „Schmökerzeit“ gibt es hier.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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